Six dots, a magical key

I am pleased to introduce Richard Bastian today, who shares his life story with us. His journey vividly demonstrates how Braille can open doors and create new opportunities.
Through Braille, Mr. Bastian has not only discovered the world of literature but also developed a deep connection with poetry that continues to accompany him to this day. His Story is a living example of how reading and writing with one’s fingers can enrich life.

English Translation:

Six dots, a magical key

My name is Richard Bastian. I was born in September 1935 with a small amount of remaining vision. Illingen, a small farming and fishing village on the Upper Rhine at the border with France, was my home. The soil was sandy and poor, and the people lived in a kind of poverty that made life harsh and bitter. Today, my home means the Alemannic language, as it was spoken in our village more than 70 years ago.

At the bright kitchen window, with my nose on the slate, later in my writing book with traced lines, I did my school assignments more or less poorly during the first years. Then that was no longer possible, and with a fairly good memory and my determined mother, I managed to get through elementary school, which I finished in 1950. My mother, weathered and with cracked hands, used to recite ballads she had learned in school during happy moments, laying the foundation for my later love for the diversity of German poetry.

In the fall of 1950, I entered the state school for the blind in Ilvesheim near Mannheim. Through the full Braille system and the short Braille system, I gradually found my way into the world of written words. Now I finally had the key to access written words firsthand. I could read, and most importantly, I could memorize. Goethe’s “Der Sänger” was the first poem I learned by touch. Over the decades, more than 500 poems have become part of me, and I can recall them from memory and admire them like beautiful pictures.

Goethe’s masterful ballads:
„Und ich sah ein Licht von weitem“
Schiller’s dramatic lines:
„Nicht blind mehr waltet der eiserne Speer, nicht fürchtet der Schwache, der Friedliche mehr, des Mächtigen Beute zu werden“
Verses by Matthias Claudius as friendly companions:
„Das schöne, große Taggestirn vollendet seinen Lauf“
Great verses by Annette von Droste-Hülshoff:
„An des Balkones Gitter lehnte ich und wartete, du mildes Licht, auf dich“
Conrad Ferdinand Meyer’s jewel from the Roman fountain:
„Und jede nimmt und gibt zugleich und strömt und ruht“
Erich Kästner’s poetry, between bitter criticism and advocacy for the little people:
„Wir sitzen nicht auf Thronen, uns schmeichelt nur der Wind. Wir haben dennoch Kronen, die schöner als Eure sind“
Rainer Maria Rilke’s sensitivity:
„Ein Tag, an dem wir fremd vorübergingen, entschließt im Künftigen sich zum Geschenk“
Wilhelm Busch’s profound reflections:
„Denn die Summe unseres Lebens sind die Stunden, wo wir lieben“

To conclude my little poetry journey through three centuries, let Bertolt Brecht have the final word:
„Dass das weiche Wasser in Bewegung mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt. Du verstehst, das Harte unterliegt.“

A moment of luck – “Mr. Bastian, you don’t know Mörike?” a colleague named Marianne asked me one day when she passed by my desk at the telephone exchange of a bank in Stuttgart. No, I knew little about the poet. Then Marianne dictated a few verses to me on my little Braille writing device. (Note: the device mentioned, the so-called Marburg stenograph machine, was an indispensable tool for blind clerks. The Braille stenograms could then be transferred to a normal typewriter.) More than 70 poems by the great poet, who one of his biographers called the “Mozart of the German language,” are still stored in my memory. The last of the so-called Peregrina poems, a deeply beautiful sonnet, will round off my contribution:

Die Liebe, sagt man, steht am Pfahl gebunden,
geht endlich arm, zerrüttet, unbeschuht;
dies edle Haupt hat nicht mehr, wo es ruht,
mit Tränen netzet sie der Füße Wunden.

Ach, Peregrinen hab ich so gefunden!
Schön war ihr Wahnsinn, ihrer Wange Glut,
noch scherzend in der Frühlingsstürme Wut
und wilde Kränze in das Haar gewunden.

War’s möglich, solche Schönheit zu verlassen?
So kehrt nur reizender das alte Glück!
O komm, in diese Arme dich zu fassen!

Doch weh! O weh! Was soll mir dieser Blick?
Sie küsst mich zwischen Lieben noch und Hassen,
sie kehrt sich ab und kehrt mir nie zurück.

Conclusion: This fall, God willing, I will celebrate my 90th birthday. Even now, there are still more than 400 poems I can recite from memory. I have slowly worked my way into this richness thanks to the gift of Louis Braille. If that isn’t a reason for gratitude.

Original German version:

Sechs Punkte, ein Zauberschlüssel

Mein Name ist Richard Bastian. Mit einem winzigen Sehrest kam ich im September 1935 zur Welt. Illingen, ein kleines Bauern- und Fischerdorf am Oberrhein an der Grenze zu Frankreich, war meine Heimat. Die Böden waren sandig und karg, und die Leute waren von jener Armut, die herb und bitter macht. Heute bedeutet für mich Heimat meine alemannische Sprache, wie sie vor mehr als 70 Jahren in unserem Dorf gesprochen wurde.

Am taghellen Küchenfenster, mit der Nase auf der Schiefertafel, später im Schreibheft mit nachgezogenen Linien, so machte ich während der ersten Jahre mehr schlecht als recht meine Schulaufgaben. Dann ging auch das nicht mehr, und mit einem relativ guten Gedächtnis sowie meiner energischen Mutter mogelte ich mich durch die Volksschule, die ich 1950 abschließen konnte. Meine Mutter, verhärmt und mit schrundigen Händen, trug uns Kindern in sonnigen Augenblicken Balladen vor, die sie aus ihrer Schulzeit behalten hatte. Sie schuf damit die Grundlage für meine spätere Liebe zur Vielfalt deutscher Dichtkunst.

Herbst 1950, mein Eintritt in die staatl. Blindenschule in Ilvesheim bei Mannheim. über die Blindenvoll- und Blindenkurzschrift tastete ich mich hinein in das braillsche System. Jetzt besaß ich endlich den Schlüssel, um aus „erster Hand“ in das geschriebene Wort hineinzugelangen. Ich konnte lesen und vor allem, ich konnte auswendig lernen. Goethes „der Sänger“ war das erste Gedicht, das ich mir mit den Fingerkuppen erschlossen habe. Im Laufe von Jahrzehnten sind so mehr als 500 Gedichte mit Hilfe der Brailleschrift bei mir heimisch geworden, die ich aus dem Gedächtnis nach Belieben abrufen und wie schöne Bilder betrachten kann. Goethes Meisterballaden „und ich sah ein Licht von weitem“ – Schillers Dramatik „Nicht blind mehr waltet der eiserne Speer, nicht fürchtet der Schwache, der Friedliche mehr, des Mächtigen Beute zu werden“ – Verse von Matthias Claudius als freundliche Wegbegleiter „Das schöne, große Taggestirn vollendet seinen Lauf“ – großartige Versgemälde der Annette von Droste Hülshoff „an des Balkones Gitter lehnte ich und wartete, du mildes Licht, auf dich“ – Conrad Ferdinand Meyers Juwel vom Römischen Brunnen „Und jede nimmt und gibt zugleich und strömt und ruht“ – Erich Kästners dichterisches Schaffen zwischen bitter-böser Kritik und Parteinahme für die kleinen Leute „Wir sitzen nicht auf Thronen, uns schmeichelt nur der Wind. Wir haben dennoch Kronen, die schöner als Eure sind“ – Rainer Maria Rilkes Sensibilität „Ein Tag, an dem wir fremd vorübergingen, entschließt im Künftigen sich zum Geschenk“ – Wilhelm Buschs Hintergründigkeiten „denn die Summe unseres Lebens sind die Stunden, wo wir lieben“. Den Schlusspunkt meiner kleinen Lyrikreise mit Beispielen aus drei Jahrhunderten soll Bertholt Brecht setzen. Im Zentrum seiner Legende von der Entstehung des Buches „Taoteking“ heißt es: „dass das weiche Wasser in Bewegung mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt. Du verstehst, das Harte unterliegt“.

Ein Glücksmoment – „Herr Bastian, Sie kennen den Mörike nicht?“ So fragte mich eines Tages Kollegin Marianne, als sie an meinem Arbeitsplatz, der Telefonzentrale bei einer Bank in Stuttgart, vorbeischaute. Nein, ich wusste nur wenig über den Dichter. Dann hat Marianne mir einige Dichterverse in mein kleines Braillsches Schreibgerät diktiert. (Anmerkung: Das erwähnte Requisit, die sogenannte Marburger Stenomaschine, war das unentbehrliche Hilfsmittel für uns blinde Schreibkräfte. Die in Braille aufgenommenen Stenogramme konnten dann in die normale Schreibmaschine übertragen werden.) Mehr als 70 Gedichte des großen Lyrikers, den einer seiner Biographen den „Mozart der deutschen Sprache“ genannt hat, sind noch immer in meinem Gedächtnis gespeichert. Das letzte der sogenannten Peregrina-Gedichte, ein innig schönes Sonett, soll meinen Beitrag abrunden:

Die Liebe, sagt man, steht am Pfahl gebunden,

geht endlich arm, zerrüttet, unbeschuht;

dies edle Haupt hat nicht mehr, wo es ruht,

mit Tränen netzet sie der Füße Wunden.

Ach, Peregrinen hab ich so gefunden!

Schön war ihr Wahnsinn, ihrer Wange Glut,

noch scherzend in der Frühlingsstürme Wut

und wilde Kränze in das Haar gewunden.

War’s möglich, solche Schönheit zu verlassen?

So kehrt nur reizender das alte Glück!

O komm, in diese Arme dich zu fassen!

Doch weh! O weh! Was soll mir dieser Blick?

Sie küsst mich zwischen Lieben noch und Hassen,

sie kehrt sich ab und kehrt mir nie zurück.

Fazit: Im Herbst diesen Jahres werde ich, so Gott will, meinen 90. Geburtstag erleben. Noch immer sind es mehr als 400 Gedichte, die ich aus dem Gedächtnis rezitieren kann. In diesen Reichtum habe ich mich durch das Geschenk von Louis Braille nach und nach hineingefingert. Wenn das kein Grund zur Dankbarkeit ist.

useful links:

Read all articles on:
Contact us with your contributions, ideas and questions by:
Braille 200 on Facebook: